Urban Citizenship mit neoliberalem Nachgeschmack
Thema: Kampf um die Stadt
Datum: 11/2017
Von: RRN (im aktuellen «Antidot» erschienen – 12/’17)
Lead:
Das Thema scheint vielversprechend, um die Lebenssituation vieler Menschen zu verbessern. Für eine Initiative wie die Tour de Lorraine, die als Gegenveranstaltung zum World Economic Forum ins Leben gerufen wurde, hinterlässt Urban Citizenship dennoch einen ziemlich neoliberalen und herrschaftskonformen Nachgeschmack, der hier thematisiert wird.
Text:
Unter den Anhänger*innen der Marktwirtschaft gibt es solche, die, wenn nicht vernünftiger, doch zumindest ein bisschen realitätsnäher sind als andere. Sie stellen die neoliberale Kehrseite zu den faschistoiden Tendenzen der selben spätkapitalistischen Medaille: So steht Trudeau in Kanada gegen Trump in den USA, Macron gegen Le Pen in Frankreich, oder Merkel gegen Seehofer und die AfD-Nazibande in Deutschland. Diese Politiker*innen nehmen zur Kenntnis, dass im freien Kapitalverkehr immer mehr Menschen miteinander in Konkurrenz treten, und das auf einem immer globalerem Arbeitsmarkt.
Es ist Tatsache, dass, wo Geld und Waren grenzenlos zirkulieren und Nationalstaaten zunehmend ihre Souveränität an internationale Organisationen, Freihandelsabkommen und transnationale Unternehmen abgeben, sich einerseits das Geld in gewissen Regionen – vor allem eben Städte im globalen Norden – akkumuliert und dass andererseits die Menschen dorthin migrieren, wo das Geld ist.
Stadt oder Staat?
Die Stadt wird als autonomer Akteur immer wichtiger: Dort befinden sich die Sitze wichtiger internationaler Organisationen und Unternehmen. Gleichzeitig entsteht zwischen den Städten eine immer dichtere Verstrickung und gegenseitige Abhängigkeit. Im internationalen Kampf um Standortvorteile – um tiefe Unternehmenssteuern, aktives Kulturleben, wirtschaftlich rentable Bildung, Festivals, gesellschaftliche Offenheit, Innovation, Messen, usw. – dient die globale Stadt als zweischneidige Speerspitze des Staates. Dessen Interesse als idealer Gesamtkapitalist besteht darin, an internationalem Einfluss zu gewinnen – selbst wenn er dafür ein paar Augen schliessen muss und nicht mehr in jedem Geschäft mitmischen darf. Solange Mehrwert und Einfluss generiert wird, lässt sich der Staat auf einen gewissen Souveränitätsverlust ein. Zeitgleich läuft er damit die Gefahr zentrifugale Kräfte auszulösen und die Kontrolle über lokale Einheiten zu verlieren – ein Phänomen, das aktuell in der ganzen Welt um sich greift.
Auch in Westeuropa erleben Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen Hochkonjunktur. Durch Global Cities reich gewordene Regionen wie Katalonien, die Lombardei und Bayern möchten lieber auf dem globalen Markt Geschäfte machen als ihren jeweiligen unproduktiven „Ossis“ oder „terroni“ Geld geben zu müssen.
Wenn Vielfalt zu Reichtum wird
Die Verteidiger*innen von Volk und Nation können es drehen und wenden wie sie wollen, dagegen hetzen und versuchen einzuschränken – Fakt ist, dass in den heutigen Städten viele Menschen leben, die nicht traditionelle Staatsbürger*innen, aber dennoch Konsument*innen und mögliche Unternehmer*innen oder Arbeitskräfte sind. Und solange diese Menschen – in erster Linie die Vermögenden unter ihnen – diskriminiert werden, kann sich ihr Marktpotential nicht richtig entfalten. Wenn reiche Menschen rechtlich und wirtschaftlich benachteiligt werden, ist dies hemmend für mögliche Geschäfte und schlussendlich schade um das Geld.“Vielfalt ist Reichtum”, wie es so passend an der Gay Pride 2017 in Bern hiess. Was für LGBTIQ gilt, kann auch auf Migration angewendet werden.
Dadurch, dass ein immer grösserer Teil der (vor allem Stadt-)bevölkerung aus der veralteten Definition von Staatsbürger*in fällt, ist es für die Aufrechterhaltung der Legitimität der (lokal)Herrschenden und Mächtigenvorteilhaft, wenn die “Volksgemeinschaft” ausgeweitet und umdefiniert wird, von einer strikt nationalen und ethnisch homogenen zu einer offenen, städtischen und multikulturellen Identität.
So steht im Integrationskonzept von 2007 für Berlin: «»Vielfalt bedeutet Stärke»- dieser Grundsatzt einer modernen Unternehmenskultur gibt besonders in Berlin. Migrantinnen und Migrantentragen zu dieser Stärke wesentlich bei. […] Berlin ist nicht nur im Kampf um Investitionen ein Global Player, sondern auch im Wettbewerb um kluge und aktive Menschen».
Die neue Definition von Vorzeigestadtbürger*in ist ein aktives und unternehmerisches Individuum in einer wirtschaftlich agilen Stadt, das nicht mehr einer einzelnen homogenen Gemeinschaftangehört, sondern sich zwischen einer Vielzahl an sozialen Gruppen oder Netzwerkenbewegt. Kulturelle Vielfalt istzum Wirtschaftsmotor geworden, zum Zeichen einer erfolgreichen und transnational vernetzten Global City.
Selbst das World Economic Forum hat sich dem Thema angenommen. Ein, auf der Website des WEF veröffentlichter,englischsprachiger Artikel beschreibtdie Notwendigkeit, Migrant*innen besser in “unsere” Städte zu integrieren: “Inklusive Städte sind in der Lage, ein aktives Engagement aller in ihr wohnhaften Gemeinschaften einzufordern, damit langfristig ein grösseres Zugehörigkeitsgefühl der Migrant*innen angestrebt werden kann. Migrant*innen werden die Vorteile erkennen, die sich ergeben, wenn sie ihre Zeit, Mühe und Ressourcen in die Optimierung ihrer Fähigkeiten stecken, wodurch sie bessere Chancen haben, und sich ihre Lebensqualität insgesamt verbessert.” (www.weforum.org, Übers. v. Verf.)
Selbst wenn sich die Stadt von der nationalen Identität teilweise verabschiedet, bedeutet dies nicht, dass identitäre Ausgrenzungs- und Verdrängungsmechanismenebenso verschwinden – auch in einerGlobal City kann früher oder später eine “das Boot ist voll”-artige Rhetorik aufkommen, was in der Debatte zur Gentrifizierung bis weit in das emanzipatorische Lager festgestellt werden kann. So ist zum Beispiel “Support your local Antifa. Don’t move to Berlin” ein gebräuchlicher Widerstandsaufruf innerhalb von antifaschistischen Gruppierungen gegen diese Form der Urbanisierung in Städten. Dies könnte aber auch als verkürzte Kapitalismuskritik interpretiert werden, da die Schuld für strukturelle Erscheinungen des Kapitalismus in einzelnen Personengruppen identifiziert wird, in diesem Fall wirtschaftlich besser gestellten Zuzügler*innen.
Aktiviere dich oder bleib› selbst schuld!
So wie eine Umdeutung der “Volksgemeinschaft” stattfindet, um sich der urbanen gesellschaftlichen Realität anzupassen, reorganisiert das Staatsgebildeauch seinen Einfluss auf lokaler Ebene um. Quartierinitiativen, Freiwilligenarbeit und alternative Projekte stehen in der Logik des “Fordern und Fördern” des neoliberalen Verständnisses von Sozialpolitik. Es wird von den unternehmerischen und wirtschaftlich rationell denkenden Stadtbürger*innen erwartet und gefordert, dass sie sich selbst aktiv darum bemühen ihr soziales Umfeld mitzugestalten.
Diese Möglichkeiten und Strukturen werden meistens von Menschen genutzt, die durch eine gewisse Sozialisierung genügend Ressourcen, Freizeit und Wissen haben, um sich aktiv in der Gestaltung des öffentlichen Raums zu engagieren um ihren Sozialraum zu verbessern.
Gut gelungene Projekte und funktionierende Strukturen werten das Quartier auf, was zu höheren Mieten, also schlussendlich Verdrängung von denjenigen führt, die nicht die Spielregeln von Klein auf verinnerlicht haben und/oder nach einem schlecht bezahlten Vollzeitjob keine Energie mehr haben, um sich zu “aktivieren”. “Inaktive”, die sich nicht selber um eine Verbesserung ihrer Lebenslage bemühen, können für ihre Lebenssituation verantwortlich gemacht werden und sind damit auch einfacher zu sanktionieren.
Selbst wenn die urbane liberale multikulturelle kosmopolitische Utopie in einigen Stadtteilen der Global Cities annähernd erreicht wird – die Antwort auf die Frage “Wem gehört die Stadt?” bleibt bei „den Parlamenten, den Vollzugsstellen, den Banken, den Konzernen, den Hauseigentümer*innen, den Kapitalinteressen”. Und die würde ihnen auch selbst dann noch gehören, wenn ein*e Sans Papier mit City-Card das Recht erhielte, Polizist*in zu werden.
Wer dient hier wem?
Solange die Profitlogik der Grundpfeiler der Gesellschaft bleibt, werden weiter Menschen verdrängt und zur Flucht gezwungen. Es werden neue Peripherien entstehen, Spannungen zwischen sozialen Gruppen zunehmen und Probleme nach aussen verlagert werden – ein Teufelskreis, in dem die schneller werdende und immer intensivere Akkumulation von Kapital immer öfter aufeinanderfolgende Krisenschübe nach sich zieht. Wenn ein Teil der Mächtigen erkennt, dass im freien Kapitalverkehr “Vielfalt” zu Stärke und Reichtum verhilft und Massnahmen ergreift, damit sich das Marktpotential dieser Vielfalt voll entwickeln kann, dann ist das kein emanzipatorisches Projekt. – Dies sollte zumindest im Hinterkopf behalten werden, wenn Begriffebenutzt werden, die aus dem Dunstkreis vom World Economic Forum stammen. Sonst läuft manin Gefahr eine Querfront einzugehen undmacht sichzum Fussvolk der Kapitalinteressen. Die emanzipatorischen Perspektiven die mensch aus den Konzepten von „Urban Citizenship“ ziehenkann sind durchaus vorhanden und erstrebenswert. Wenn dabei die bestehenden Herrschaftsverhältnisse aber nicht in Frage gestellt werden, sind sie dazu verurteilt, als Standortvorteil zu enden.
Literatur zum Thema:
Huisken, Freerk. 2016. Abgehauen. Eingelagert, aufgefischt, durchsortiert, abgewehrt, eingebaut – Neue deutsche Flüchtlingspolitik. VSA Verlag
Konicz, Thomas. 2016. Kapitalkollaps: Die finale Krise der Weltwirtschaft. Konkret Texte
Rodatz, Mathias. 2014. Migration ist in dieser Stadt eine Tatsache. Urban politics of citizenship in der neoliberalen Stadt. s u b \ u r b a n . zeitschrift für kritische stadtforschung.