Marielle Franco, presente!

Thema: Antisexismus/Antifaschismus
Datum: 19/03/2018
Übersetzt von: El Perico Mendoza

Fünf Tage nach dem Mord an Marielle Franco am 14.03.18, führte die  Gruppe „The Black Rose/Rosa Negra Social Media Team“ (BRRN) aus den  USA ein Interview mit der Federação Anarquista do Rio de Janeiro FARJ (Anarchistische Föderation Rio de Janeiro).

BRRN.: Könnt ihr uns etwas über den Aktivismus Marielle Francos  erzählen? Aufgrund welcher Aktivitäten war sie bekannt?

FARJ. Marielle wurde im Jahr 2016 zur Stadträtin von Rio de Janeiro  gewählt (fünftbestes Wahlergebnis) und war Mitglied der Partei  Sozialismus und Freiheit (PSOL), eine Abspaltung der Arbeiterpartei  (PT). Vor allem aber war sie eine schwarze und lesbische Frau, geboren  und aufgewachsen in einer der größten Favelas von Rio. Sie hatte eine lange Geschichte der Militanz und des Kampfes hinter sich. Sie war  stark in Menschenrechtskämpfe involviert, vor allem Frauenrechte  (insbesondere Abtreibungsrechte und gegen sexuelle Gewalt) und Kämpfe  der schwarzen Community (gegen Polizeibrutalität und den Völkermord an  Schwarze).

Vor kurzem wurde sie zur Berichterstatterin der  Interventionskommission des Stadtrats von Rio ernannt, eine Kommission  die zur Beaufsichtigung der bundesstaatlichen Intervention im Bereich  Sicherheit von Rio de Janeiro erstellt wurde. In ihren letzten Tagen  kritisierte sie vehement die Polizeibrutalität in der Favela  „Acari“,  eine Favela, die Monate vor der militärischen Intervention, oft Ziel  gewalttätiger Polizeieinsätze war und viele Opfer forderte. Sie wurde  unter den kämpfenden Menschen aus Rio de Janeiro sehr respektiert,  sogar von denen, die aufgrund ihrer Geschichte und ihrer kämpferischen  Praxis, nicht an Wahlstrategien glauben.

BRRN: Erläutert uns den politischen Kontext ihrer Ermordung. Wir  wissen, dass das Militär und die Bundesregierung im vergangenen Monat in Rio de Janeiro eingriffen und die Polizeiarbeit übernahmen.  Marielle kam aus einem Favelaviertel und kritisierte die Beteiligung  des Militärs an der Polizeiarbeit.

FARJ: Rio de Janeiro hat eine lange Militärinterventionsgeschichte.  Nach dem Ende des Militärregimes (1964-1985), also in den 90er Jahren,  vor allem in Favelas. Diese Interventionen häuften sich 2007 während  der zweiten Regierungszeit der Arbeiterpartei (PT) unter Lula da Silva  als auch während der Amtszeit von Dilma Rousseff. Im Jahr 2008 begann  das Projekt „Befriedende Polizeiheit“ (UPP) in mehreren Favelas von  Rio, dessen Ziel die Besetzung der Favelas durch  Militärpolizeieinheiten war, um Drogenhändler zu vertreiben und – nach  Angaben der Polizei- soziale Verbesserungen in der Nachbarschaft  voranzutreiben. Letzteres geschah jedoch nie, denn von Anfang an gab  es meistens nur Berichte über Menschenrechtsverletzungen: Leute wurden  ermordet oder verschwanden, die Polizei drang in Häuser ein und  besetzte fremde Lebensräume, während der Drogenhandel weiterhin – stillschweigend – stattfand.

Das UPP-Projekt war eine klare Vorbereitung für zukünftige  Großveranstaltungen wie die Olympischen Spiele und die  Weltmeisterschaft. Während diesen Ereignissen wurden militärische  Kräfte in Favelas eingesetzt, um der Bevölkerung und den Touristen ein  Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, während in den Favelas, in denen mehrheitlich Schwarzen leben, das Leiden und Sterben weiterging. Seit  dem erfuhr Rio mehrere bundestaatlich-militärische Interventionen, die  sich immer auf verschiedenen Favelas fokussierten. Die neue,  langfristige Intervention war nicht anders. Militärische Einheiten  besetzten diverse Favelas, registrierten die Bewohner (indem sie
ihre Ausweise und Gesichter fotografierten). Daraufhin wurden mehrere  Berichte über Menschenrechtsverletzungen gemeldet. Nur im Januar 2018  wurden in Rio 66 Menschen bei Polizeieinsätzen ermordet, fast alle in  Favelas. Die Ausrede des «Kriegs gegen die Drogen» wird seit langem  als Vorwand verwendet, um die schwarze Bevölkerung Brasilien zu töten  und einzusperren.
Marielle war schon immer eine Gegnerin der Militarisierung der Stadt  und handelte entschlossen gegen die Polizeibrutalität in den Favelas  und in der Peripherie von Rio. Vor kurzem kritisierte sie das 41.  Bataillon der Militärpolizei, das Operationen in der Favela Acari  durchführt und zu den tödlichsten Militärpolizeieinheiten Rios gehört.  Im Jahr 2016 töteten Polizisten dieser Einheit 117 Menschen. Die  Ermordung von Marielle ist eine klare Antwort auf ihre Aktivitäten  gegen den Völkermord an Schwarze, und da sie selbst eine Schwarze Frau  war, war sie, wie üblich, das ausgewählte Ziel.

BRRN: Die Medien berichten über Straßenprotesten als Reaktion auf den  Mord. Wie war die bisherige Reaktion der Regierung, und wie die auf  den Straßen und der sozialen Bewegungen?

FARJ: Bisher gab es zwei Tage lang landesweit riesige Demonstrationen,  weitere sind bereits geplant. Marielle war Mitglied einer politischen  Organisation, Mitglied und Unterstützerin sozialer Bewegungen und  arbeitete zuvor für verschiedene NGOs. So wurde sehr schnell ein  Unterstützungsnetzwerk aufgebaut und Demonstrationen organisiert. Letztere waren vor allem Trauerkundgebungen, die das Ende  militärischer Interventionen und die Untersuchung des Vorfalls  forderten. Für uns ist die Polizei an dem Mord Marielles beteiligt,  denn er steht in direktem Zusammenhang mit ihren Anschuldigungen  gegenüber dem brutalen Vorgehen der Militärpolizei.
Die Regierung und die Medien versuchen den Mord als Vorwand  für eine  weitere militärische Intervention zu benutzen, als ob der Tod  Mariellas überhaupt nichts mit genau diesen Interventionen zu tun hätte.
Aus den bisherigen Ermittlungen geht hervor, dass die 9mm Kugeln, mit  denen sie getötet wurde, aus dem Arsenal der Bundespolizei stammen.  Dieselben Kugeln wurden bereits vor drei Jahren bei anderen Verbrechen  seitens der Polizei verwendet: In São Paulo wurden dazumal 18 Menschen  getötet.

BRRN: Als schwarze Aktivistin kritisierte Marielle den historisch  verwurzelten Rassismus Brasiliens. Könnt ihr für diejenigen in den  USA, die mit der Thematik nicht vertraut sind, etwas über die  gegenwärtigen Anti-rassistischen Kämpfe Brasilien sagen? Hatte die  schwarze Bürgerrechtsbewegung und die Black-Power Bewegung einen  Einfluss auf die Kämpfe in Brasilien?

FARJ: Hier in Brasilien sind diese Kämpfe sehr stark mit den  Bewegungen in den Favelas verflochten, da in den Favelas meist  Schwarze leben. So haben Gruppen und Kollektive aus den Favelas, auch  wenn nicht ausschließlich Schwarze sich daran beteiligen, Verbindungen  zu den Kämpfen für die Rechte der Schwarzen. Heute gibt es verschiedene Gruppen, die in den Favelas aktiv sind. In den meisten  Favelas gibt es eine starke Präsenz von NGOs, deren Ziele meistens  sehr begrenzt sind, weil sie von internationalen kapitalistischen  Organisationen finanziert werden und professionelle AktivistInnen in  den Führungspositionen sitzen. Außerdem gibt es mehrere autonome und unabhängige Gruppen, die in den Favelas arbeiten und die  Polizeibrutalität als auch den Völkermord an Schwarze kritisieren. Sie  arbeiten mit den Familien der Opfer, mit Kindern, organisieren  kulturelle Aktivitäten und Weiterbildungskurse, um den Menschen den  Zugang zur Hochschulbildung zu erleichtern. Es gibt immer noch keine starke landesweite schwarze Bewegung wie Black Lives Matter, aber es  gibt mehrere Gruppen und Verbindungen werden kontinuierlich hergestellt.

Die schwarze Bevölkerung Brasiliens hat eine lange Geschichte des  Widerstands hinter sich, von den Auseinandersetzungen während der Zeit  der Sklaverei, bis zu den Unruhen in den Favelas, wenn jemand von der Polizei ermordet wird. US Bewegungen und Aktivisten sind sicherlich  eine Quelle der Inspiration für die hiesigen Organisationen, aber  Brasiliens historische Entwicklung weist wesentliche Unterschiede zu  der Entwicklung in den USA auf. Die Erfahrungen aus einem Land können  nicht einfach auf andere Gebiete übertragen werden. Obwohl im Allgemeinen die Probleme der Schwarzen hier ziemlich ähnlich sind wie  in den USA, gibt es viele Unterschiede, die sich z. B. auf die Form  der Organisation der Kämpfe auswirken. Beispielsweise wurden 2016 in  den USA 913 Menschen (2,8 Personen pro eine Million Einwohner) von der  Polizei ermordet, in Brasilien waren es 4200 (20,2 Personen pro eine  Million Einwohner). Deshalb ist die Geschichte der Bewegung hier, an  Formen der Organisation geknüpft, die sich auf langfristige Kämpfe  fokussieren. Unschuldige Menschen werden inhaftiert oder ermordet, die Leute müssen ständig auf Angriffe des Staates reagieren.

BRRN: In Brasilien sind zurzeit neoliberal-rechte Kräfte an der Macht.  Die sozialdemokratische Präsidentin Dilma Rousseff der Arbeiterpartei  wurde 2016 durch einen parlamentarischen Staatsstreich absetzt. Wir  denken, dass für viele Linke in Brasilien, das jüngste Eingreifen der  Armee in die Polizeiarbeit, sie an die Zeiten der Diktatur erinnert, die über 20 Jahre (bis 1985) regierte. Die FARJ hat kürzlich eine  Analyse veröffentlicht, die die Rolle des Militärs bei der  Polizeiarbeit und die aktuelle politische Situation im Land bespricht  («A intervenção federal no Rio de Janeiro e o xadrez da classe  dominante“). Könnt ihr eure Analysen kurz zusammenfassen und  erläutern, ob die Ermordung Marielles, die für viel Empörung gesorgt  hat, die aktuellen Kräfteverhältnisse verändern könnte?

FARJ: In den letzten Monaten ist uns folgende Dynamik aufgefallen: Die  Regierung und die Medien versuchen ein Gefühl der Unsicherheit zu  propagieren. Sie berichten über erhöhte Gewaltraten (Überfälle,  Diebstahl, Kriminalität im Allgemeinen), den ganzen Tag lang werden  Nachrichten über die Zunahme von Überfallen verbreitet, besonders während der Karnevalszeit, wenn wir viele Menschen und Touristen auf  den Straßen haben. Dies ist nur ein Vorwand um die – seit einem Monat  begonnene – bundesstaatliche/militärische Intervention zu  rechtfertigen (die zunächst bis Ende Jahr andauern soll).
Die Militärintervention ist ohne Zweifel eine Methode der sozialen  Kontrolle und richtet sich – wie immer – gegen schwarze und arme  Menschen. Die im kapitalistischen Staat verwurzelte weiße  Vorherrschaft wird alle Mittel einsetzen, um sicherzustellen, dass die  neoliberale Politik ohne Probleme vorangetrieben werden kann.
Die Intervention vermittelt der Mittelschicht und der herrschenden  Klasse ein falsches Sicherheitsgefühl auf Kosten von mehr Tod, Leid  und des Verlustes der wenigen Rechte, die Schwarze und Arme in diesem  Land haben. Rio de Janeiro war schon immer ein Labor für den Rest des  Landes, wie wir mit dem UPP-Projekt (das bereits in anderen Bundesstaaten umgesetzt wurde), und mit den jüngsten neoliberalen  Reformen der öffentlichen Dienstleistungen gesehen haben. Die  Intervention hier ist ein klarer Test, um zu ermitteln, ob sie auch an  anderen Orten Brasiliens eingesetzt werden kann.
Zudem ist der Mord an Marielle eine klare Botschaft an die sozialen  Bewegungen, da er in klarer Verbindung zu den staatlichen  «paramilitärischen» Kräften steht. Es ist eine Zunahme der Repression  zu erwarten und – obwohl dies nichts Exklusives der gegenwärtigen  Temer-Regierung ist, ist die repressive Zuspitzung sicherlich damit  verbunden. Die Ermordung kämpfender AktivistInnen und prominenter  VertreterInnen sozialer Bewegungen, ist in Brasilien eine bekannte  Praxis und ist auch außerhalb der großen Städte, im Hinblick auf  Bauern und indigenen Bewegungen, sehr verbreitet. Im Jahr 2017 wurden  65 Menschen getötet und 4 Massaker registriert, im Jahr 2016 waren es  61 Tote. Die Sammlung dieser Daten, die von verschiedenen  Organisationen – auch von Marielle –  zusammengetragen werden ist enorm wichtig, weil es den sozialen Bewegungen hilft, die  Aufmerksamkeit auf die Gewalt zu richten und ebendiese anzuprangern.  Zugleich erleichtert diese Aufmerksamkeit den Zugang zu juristischer  Unterstützung. Wir denken, dass die Ermordung Marielles ein großer und  massiver Kampf entfachen könnte, aber es ist noch zu früh um sichere Aussagen machen zu können. Dennoch ist es äußerst wichtig, dass  antirassistische und antikapitalistische Gruppen, soziale Bewegungen  und linke politische Organisationen auf diesen Angriff mit  Mobilisierungen und direkten Aktionen auf den Straßen reagieren. Wir  müssen die Verbrechen des Kapitalismus und des Staates, die die marginalisierten Teile der brasilianischen Bevölkerung an ihrem  eigenen Leib erfahren, bekämpfen.

(Foto: http://socialistresistance.org)

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